
TEIL II STEIN UND MENSCH
Finsteraarhorn vom Furkapass
1 Das irdische Dasein
Im ersten Teil, Kapitel 9, trug die Überschrift «Eine andere Sichtweise». Dort wurden alltägliche, banale Vorgänge – wie das Verhalten einer Fonduepfanne oder der Auftrieb eines Schiffes – als Modelle für komplexe Prozesse im Erdinneren herangezogen. Solche Analogien habe ich bewusst zurückgewiesen. Es ging mir dabei nicht darum, kleinlich auf Fehlern herumzureiten oder bloß Kritik zu üben. Vielmehr wollte ich darauf aufmerksam machen, aus welcher Gesinnung solche Erklärungsversuche hervorgehen. Wäre diese Gesinnung heute allgemein üblich, müsste ich an dieser Stelle nicht weiter schreiben. Weil eine andere Sicht noch vertretbar ist, möchte ich eine grundlegend andere Richtung einzuschlagen.
Meine bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass uns die gängigen Erklärungsmodelle zunehmend einengen. Sie beschränken unser Denken auf das rein Materielle, auf das Mechanistische. Doch unser Dasein umfasst weit mehr. Wenn wir uns nicht selbst verlieren wollen, müssen wir dieses Wissen in einen größeren Zusammenhang stellen. Denn wir laufen Gefahr, den Menschen – als den Schöpfer der Wissenschaft – aus dem Blickfeld zu verlieren.
Wie manifestiert sich das irdische Dasein?
Das irdische Dasein gliedert sich in vier Naturreiche: das Mineralreich, das Pflanzenreich, das Tierreich und das Menschenreich. Sie bestehen nicht nebeneinander, sondern durchdringen und erweitern sich, wirken zusammen als eine lebendige Einheit. Ich möchte die Glieder kurz charakterisieren.
1.1 Mineralreich: Das Mineralreich umfasst alles "Mineralische". Es besteht aus den vier Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Die Steine gehören dem Erdenelement an. Die im Mineralreich wirkenden Gesetze sind die Gesetze der Kausalität.
1.2 Pflanzenreich: Das Pflanzenreich umfasst alles Vegetative. Es bildet Organismen, die vom Leben durchdrungen sind. Sie besitzen über ihre physische Erscheinung hinaus einen Lebensleib. In dem Lebensleib sind die Gesetze des Wachstums, der Fortpflanzung, der Evolution und sofort wirksam. Diese Gesetze sind nicht kausal erklärbar, sie sind von Bedingungen abhängig. Bedingungen, die in ihrem Organismus und in der ihr umgebenden Welt zu finden sind.
1.3 Tierreich: Die Tiere haben einen physischen Leib, der von Vitalkräften durchdrungen ist. Zudem sind die Tiere mit Sinnen begabt. Sie verinnerlichen Sinneseindrücke, die sie aus ihrer Umwelt und ihrer Leibesfunktionen empfangen. Ihre Sinneseindrücke bewirken Freude und Schmerz, Hunger und Durst. Dadurch besitzen sie zu ihrem physischen - und ihrem lebendigen Leib noch einen Empfindungsleib. Ein Empfindungsleib hat sowohl das Tier als auch der Mensch. Doch unterscheidet sich die Sinneswahrnehmung des Tieres von den Sinneswahrnehmungen des Menschen.
1.4 Sinneswahrnehmung beim Tier und beim Menschen: Der Mensch vermag die Sinnesempfindungen als "ein innerliches Gegenstück" zu den Wahrnehmungen zu erleben. Das Tier dagegen ist ganz Freude, ist ganz Schmerz, sobald seine Sinne diese Empfindungen in ihm wachrufen. Er ist diesen Eindrücken ausgeliefert. Der Mensch erfährt das "Ausgeliefert-Sein" in Extremfällen. Normalerweise beobachtet der Mensch, wie die Empfindung spricht. Durch sein Ohr vernimmt er ein Geräusch, auch das Tier wird diesem Geräusch gewahr. Beim Menschen kann das Geräusch zum Klangerleben werden, ja es kann zum Erleben der Musik werden. Durch das Auge beobachtet der Mensch Farben, auch viele Tiere können Farben unterscheiden, aber beim Menschen können Farben zu einem Bild und zum Erlebnis der Malerei werden. Die Kunst ist uns Menschen durch die Sinne zugänglich. Beobachtet der Mensch was die Kunst in seinem Innern wachruft, so findet er Zugang zur Ästhetik. Diese Qualitäten kann sich nur der Mensch bewusst machen, das Tier nicht.
1.5 Die menschliche Individualität: Die menschliche Individualität ist einmalig. Das Jahr, der Tag und die Zeit ihrer Geburt, verbunden mit dem Geburtsort, den Eltern und dem sozialen Umfeld unterstreichen ihre Einmaligkeit. Schauen wir auf ihre Lebensspanne, so endet diese mit dem Ereignis des Todes. Ihre Biographie geht dann in die Geschichte ein als eine einmalige Geschichte. Eine Geschichte, die geprägt wurde von ihrem individuellen Denken, Fühlen und Handeln.
1.6 Übersinnliche und untersinnliche Welten: Was alles in der Welt webt und lebt, ist nicht mit den obigen vier Naturreiche erschöpft. Der Mensch ist auch Bürger einer untersinnlichen und einer übersinnlichen Welt. Diese beide nicht-sinnlichen Welten sind mit den Naturreichen wie mit uns Menschen verwoben.
Zu den untersinnlichen Kräften gehören unwahrnehmbare Kräfte wie Elektrizität, Magnetismus, Strahlung und Atomkraft, die der Mensch durch Wissenschaft und Technik zu benutzen und zu manipulieren lernte.
Die übersinnliche Welt kann der Mensch durch sein Empfinden und Fühlen erleben. Steigert sich dieses Erleben, wie ich es später bei den Beobachtungsstufen der Steine schildere, gelangt er zu Imagination, Inspiration und Intuition. Imagination ist ein bildhaft übersinnliches Erleben. Bei der Inspiration wird eine Wesensbegegnung erlebt und durch die Intuition erlebt er unmittelbar das Reich des Geistes, zu dem ihm sein Denken die Grundlage bildet. Mit Intuition ist nicht das oberflächlich zufällige Gedankenspiel oder ein dumpfes Bauchgefühl gemeint. Das Beobachten, Erleben und Beurteilen dieser nicht-sinnlichen Welten ist eine Herausforderung. Meine Ausführungen geben da keine abschliessenden Schlussfolgerungen. Sie mögen aber den Boden für eine mögliche Verständigung abgeben
Warum gab ich diese Einteilung?
Die Bereiche des irdischen Daseins sind knapp charakterisiert. Vertieft man sich in diese Seinsbereiche, können sie wie eine Orchester-Partitur erlebt werden. Was auf der Partitur sauber getrennt aufgeführt ist, erklingt in der Symphonie zusammen. So ist es auch mit dem irdischen Dasein. Wir müssen uns bemühen, die einzelnen Bereiche nicht durcheinander zu bringen, damit aus dem Zusammenwirken der Kräfte keine Kakophonie entsteht. Für unerklärliche Zusammenhänge werden aus Bequemlichkeit allzu oft Erklärungen erfunden, die einfach so sinnlos sind, wie das «Fondue» im Erdinneren oder das Entladen des «Alpen-Lastkahns» (siehe Teil I, 9.2.3). Auch wer von der «Seele» eines Steins spricht, wer die Wirkung eines Gesteins als «Schwingung» erklärt oder wer den Ausdruck «Frequenzen» dafür benutzt, weil er auf etwas nicht Sinnliches hindeuten will, der sollte lieber zu seiner Unkenntnis stehen, als Unsinn zu verbreiten. Der gesunde Menschenverstand weiss, dass der Stein anorganisch ist und keine Seele hat. Schwingungen und Frequenzen (die ganze Skala elektromagnetischer Frequenzen) sind physikalisch nachweisbar, auch dann, wenn bestimmte Frequenzen für unsere Sinne nicht mehr wahrnehmbar sind. Oder jemand phantasierte über schöne und hässliche Kristalle in der Weise, dass in den schönen Kristallen die Elementarteilchen in Harmonie schwingen, in den hässlichen aber in Disharmonie. Hier wurde eine neue Welt erfunden, die der Atomtheorie gründlich widerspricht. Versucht man dem Phänomen des Dialogs mit Steinen auf die Spur zu kommen, versperrt man sich mit einer solchen pseudowissenschaftlichen Diskurs den Zugang.
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