NOMENKLATUR

1.2c die Fichte

Als drittes Beispiel schildere ich wie das Intuitionsvermögen das Formprinzip der Fichte (Rottanne) fassen kann.

Wenn sich die Rottanne frei im Raum entfalten kann, kommt ihr Formprinzip am besten zur Geltung. Wenn physische Bedingungen dies verhindern, passt sie sich den Gegebenheiten an.

Wer sich unter eine Fichte stellt mit dem Rücken zum Stamm, den Kopf aufwärtsrichtet und nach oben schaut, erkennt einen Strahlenkranz. Die Äste stecken wie Pfeilen im Stamm. Wer Fichtenholz kennt, weiss, dass der Ast viel härter und widerstandsfähiger ist als das umgebende Holz. Der Ast und das umgebende Holz sind kaum miteinander verwachsen. Man gewinnt den Eindruck, dass dort, wo sich der Ast befindet, das Holz des Stammes zurückweicht und den Ast wie einen Fremdkörper umfliesst. Äste im Holz können sogar herausfallen. 

Einmal fand ich im Wald einen morschen Baumstrunk einer Fichte. Ich weiss nicht, wie lange er schon dort lag. Als ich den Strunk in die Hand nahm, fiel mir auf wie leicht er war. Da er von Ungeziefer völlig ausgehöhlt war, konnte ich hindurchsehen. Dann entdeckte ich, was dem Auge sonst verborgen bleibt, die Fortsetzung der Äste im Innern. Den oben beschriebenen Strahlenkranz fand ich im Inneren des Stammes wieder. Als härteste Einlagerung hatte er dem Zersetzungsprozess widerstanden. Die Äste liefen auf einen Punkt zu, der aber nicht mehr materiell sichtbar war.

Das Bildeprinzip des Strahlenrades liegt dem ganzen Baum zugrunde. Rechts im Bild (unten) habe ich das "Rad mit den Speichen" gezeichnet und rechts daneben ist ein Ästchen. Stellt man sich weiter vor, wie dieses Rad durch die vertikale Wachstumskraft auseinandergezogen wird, so erkennt man, dass die "Speichen" (hier Äste) dem Bildeprinzip treu bleiben, der jeweilige Neigungswinkel der Äste wird über die Vertikalausdehnung "verschleppt". Somit ist das Strahlenrad sowohl in der Vertikalen als auch in der Anordnung der Nadeln am Ästchen deutlich erkennbar.

Wird die Tanne durch einen Sturm entwurzelt, wird das Wurzelwerk tellerförmig und kreisrund aus dem Boden gerissen. Das Formprinzip findet sich im Wurzelbereich wieder. Wächst der Baum dagegen in steilem, felsigem Gelände, sieht der Wurzelbereich oft anders aus. Auf einer Wanderung im Zürcher-Oberland fand ich eine Rottanne, die den Kampf des "Sich Aufrichtens" auf besondere Weise gewonnen hatte (Bild links unten). In der Rofflaschlucht umschlossen die Wurzel gar einen Felsen (Bild Mitte) und am Rande eines Bachbetts, wichen die Wurzel zweier Tannen einem kleinen Findling aus (Bild rechts). 

Der Baum entfaltet seine Gestalt im "Irdisch-Wässrigen" und im "Luft-Licht-artigen-Raum". Er verbindet diese beiden Seinsbereiche. Die Wurzelzone lebt in der Auseinandersetzung mit vielen Widerständen. Die Krone dagegen entfaltet sich in der klaren Anordnung ihrer Glieder.

Zusammenfassend könnte man sagen: Die Fichte manifestiert in der Krone, im Stamm, in den Ästen, bis in die Nadeln "Strahlkräfte". Im Wurzelbereich zeigen sich dagegen "Bewegungskräfte", die in der Auseinandersetzung mit der Erdennatur "fliessend" oder "strömend" erscheinen können.

Ich habe viele Bäume gezeichnet und aquarelliert, nicht um "Bildchen" von ihnen zu sammeln, denn dann hätte ich sie besser fotografiert. Durch die zeichnerische Auseinandersetzung habe ich mich viel intensiver mit ihrer Gestalt und Gestik verbunden. Eine Gestalt, der viel reicher ist als ein einzelnes Bild vermitteln kann. Das Bild kann uns nur ein anregender Wegweiser sein, um unsere Aufmerksamkeit auf das Wesen des Baumes zu lenken, dessen Gestalt aber nicht sinnlich, sondern nur geistig, durch Intuition, erfasst werden kann.